Wie wollen wir sterben?

Wenn wir also gut zu sterben wünschen, müssen wir lernen, gut zu leben: Wenn wir auf einen friedvollen Tod hoffen, dann müssen wir in unserem Geist und in unserer Lebensführung den Frieden kultivieren.

(Der Dalai Lama im Vorwort zum Tibetischen Buch vom Leben und Sterben)

Vielleicht der faszinierendste Aspekt meines Bestatterpraktikums ist, dass ich die Menschen, mit denen ich arbeite, erst kennen lerne, wenn sie schon tot sind – und dass ich trotzdem so viel über ihr Leben und Sterben erfahre. Selbst in der kalten und unpersönlichen Atmosphäre der Prosektur (ja, das Wort kannte ich vor 4 Wochen auch noch nicht …) eines Krankenhaus, in der man nichts anderes als den Körper und das Antlitz vor sich hat, kann man erahnen, ob der Abschied von der Welt ein friedlicher war oder ob der Verstorbene gegen den Tod gekämpft hat. Aber nicht nur das, auch kurz nach ihrem Tod haben manche Menschen noch eine ganz besondere Ausstrahlung. Wer weiß, vielleicht geht ja manchmal meine Fantasie mit mir durch. Aber in einigen Fällen hat sich dieser Eindruck nachträglich auch im Gespräch mit Menschen, die den Verstorbenen kannten oder etwas über ihn wussten, bestätigt.

Wenn man den Verstorbenen im Altenheim oder zuhause abholt, verraten die Räume, die Pflegenden oder die Angehörigen ganz viel über den Menschen, der gegangen ist. Familienfotos an den Wänden, von den Enkeln für den Opa produzierte Kunstwerke, Gegenstände, die man dem Toten aufs Bett gelegt hat. Die Gesichter und die Gesten der Menschen, die Abschied nehmen müssen.

Manchmal täuscht einen aber auch der erste Blick: Am Ende der ersten Praktikumswoche brachte mich ein ganz unerwartetes Ereignis aus der Fassung. Abholung in einem Altenheim, eigentlich schon Routine. Man fährt an den Hintereingang und bringt den Verstorbenen so unfällig wie möglich zum Fahrzeug. Doch heute: Sommerfest im Altenheim. Schmissige Live-Volksmusik, großer Grill, die Senioren schunkeln auf den Bänken im Hof und im Foyer. Wir müssen durch den Haupteingang, mit der Trage & betretenen Gesichtern haarscharf am Kuchenbuffet entlang und schnell in den Fahrstuhl rein. Im Zimmer im ersten Stock liegt dann, sehr zart und still, der alte Herr auf seinem Bett. Das Fenster ist weit geöffnet, direkt darunter ertönt das „Tschingderassabum“, Schwaden von gegrilltem Fleisch fluten den Raum. Ich möchte heulen … Abends berichte ich dann meiner Chefin, die den Verstorbenen kannte. Aber nein! Er hätte diese Musik geliebt. Bei Musikabenden im Heim wollte er immer tanzen, obwohl er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Es hätten keinen schöneren Rahmen für seinen Auszug geben können! (Man sagt ja, dass das Gehör das letzte ist, das den Verstorbenen verlässt. Hoffentlich hat er noch ein bisschen hören können …)

Ich hatte ja so meine Vorstellungen, wie das „ideale“ Sterben aussieht. Aber muss jetzt doch ein bisschen differenzieren. Einmal: ist der Tod denn eigentlich ein Zeitpunkt oder nicht vielmehr ein Prozess? Ich bin mir nicht mehr sicher, ob der vom Arzt als tot Diagnostizierte nicht doch noch eine Weile etwas mitbekommt von dem, was mit ihn & um ihn herum passiert. Es fühlt sich zumindest richtig an, sich so zu verhalten, als wäre das der Fall. Und: wo ist der richtige Ort, um zu sterben. Ich dachte immer: zuhause, wie damals mein Großvater. Jetzt sehe ich das ein bisschen anders: es gibt Krankenhäuser und Heime, in denen ein Sterben in Würde und unter Anteilnahme möglich ist. Und es gibt genauso Menschen, die daheim, aber trost-los sterben.

Was ich nicht erwartet hätte: es gibt in Altenheimen Pflegende, die trauern und die sehr liebevoll und mit viel Zeit Abschied von ihren Toten nehmen. Es gibt in manchen Heimen und Krankenhäusern Abschiedsräume, in denen die Toten angekleidet und gebettet werden, liebevoll mit Blumen und Kerzen umrahmt. Die Angehörigen bzw. Pflegenden und Heimbewohner haben alle Zeit, um dort in Ruhe Abschied zu nehmen. Besonders ausgeprägt ist diese Aufbahrungskultur bei den anthroposophischen Heimen oder Kliniken – ganz wunderschön!

Wenn man das einmal erlebt hat, dann kommen einem die Abholungen in den Pathologien bzw. Prosekturen doppelt grausam vor. Das mutet dann zuweilen an wie die Fahrt in eine Unterwelt aus Beton, in die Tiefgarage, durch zahllose Schranken und Schleusen, bis man schließlich seinen Verstorbenen in einem Raum vollgestopft mit Bahren oder aus einem Regal von Schubladen heraussuchen muss.

Aber vielleicht ist ja auch das nicht die letzte Wahrheit.

Vor einigen Monaten, lange bevor ich mich zu meiner Auszeit und meinem Praktikum entschlossen habe, hatte ich einen Traum:

In diesem Traum bin ich gestorben. Das hört sich vielleicht nicht so ungewöhnlich an, ungewöhnlich war jedoch die Art und Weise, weil ganz ohne die üblichen Elemente von Angst und Verzweiflung: Ich ging in ein Krankenhaus und wusste, dass ich sterben würde. Ich war wohl alt, auf jeden Fall sehr schwach. Das Krankenhaus war eher kalt und unpersönlich, besonders das kalte Licht und die gelbgrün schimmernden Kacheln habe ich in Erinnerung. Die Berührungen der Pflegenden waren eher technisch-professionell, trotzdem empfand ich sie als tröstlich. Ich wurde immer schwächer, das Bewusstsein setzte immer öfter aus. Ich war aufgeregt und neugierig und dachte, nun werde ich gleich erfahren, ob es nach dem Tod weitergeht.

Ja, dann bin ich natürlich aufgewacht und weiß heute ebenso wenig wie vorher, ob es eine Form der Weiterexistenz nach dem Tod gibt. Ich weiß aber noch, dass ich an jenem Tag sehr froh und hochgestimmt war, als hätte ich ein bedeutendes Geheimnis erfahren. Wenn ich dies Geheimnis in Worte fassen sollte, wäre es wohl: du musst keine Angst vor dem Sterben haben.

Riensberger Friedhof, Bremen

Riensberger Friedhof, Bremen

3 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Nun kenne ich bereits seit über 35 Jahren die Katakomben in den Kliniken, Pathologien und Prosekturen; hier befinden sich super Kulissen für einen mittelklassigen Krankenhauskrimi. An diesem Zustand hat sich tatsächlich seit Jahrzehnten kaum etwas verändert.

    Das Bewusstsein der Pflegenden, Heimleitungen und Krankenhausoberen aber sehr wohl. Dank einer guten Aus- und Fortbildung, aber auch dank einer guten Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Tod und Trauer hat sich eine ganze Menge getan und ich denke, dass hier schon viele auf einem guten Weg sind.

    Vielen Dank an dieser Stelle für den tollen Text!

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